Rede des SPD-Ratsmitglieds und kulturpolitischen Sprechers, Heiko Schlatermund, zur „Namensgebung Villa Schlikker“ in der Ratssitzung am 25.04.2023

Langfassung zum TOP 14.2

Im Namen der SPD-Fraktion begrüße ich es außerordentlich, dass der Rat nunmehr in seiner heutigen Sitzung einen Beschluss zur zukünftigen Ausrichtung der Villa im Museumsquartier fassen wird.

Es gab selten ein kulturpolitisches Thema der jüngsten Vergangenheit, bei dem zugleich so kontrovers, zugleich aber auch mit so viel historischer Fachkompetenz, großem Engagement und enormer Geduld über eine Sache debattiert worden ist.

Vor uns liegt jetzt ein Vorschlag, der aus einer Empfehlung jenes Wissenschaftliches Beirats stammt, den dieser Rat seinerzeit eingesetzt hat, um zu einer Beurteilung und Benennung des Hauses zu kommen.

Unsere Fraktion hat sich nach ausgiebiger Debatte einvernehmlich darauf verständigt, dem Vorschlag – auch in der jetzt vorliegenden Fassung
„Die Villa _Forum Erinnerungskultur und Zeitgeschichte“ – zuzustimmen.

Wir zollen ausdrücklich all denen unseren großen Respekt, die sich bislang sachlich, wissenschaftlich fundiert, wie auch mit berechtigten Emotionen in die Debatte eingebracht haben – auch denen, die alles anders sehen mögen als wir.

Und wir haben es uns als SPD-Fraktion aber auch in unseren Ortsvereinen gerade in jüngster Vergangenheit nicht leicht gemacht, nun zu diesem Kompromiss zu gelangen.

Dies liegt nicht zuletzt darin begründet, dass der leider viel zu früh verstorbene Peter Niebaum, ohne den wir wohl niemals so ausgiebig über Hans Calmeyer debattiert hätten, ein damaliges, hoch geschätztes Mitglied der SPD-Ratsfraktion gewesen ist, dem wir stets den Rücken bei seinen Forschungen gestärkt haben.

Die Biografie Hans Calmeyers war sicher so etwas wie Peter Niebaums Lebenswerk. Das wiederum wird ihm niemand jemals streitig machen. Die Erinnerung an Hans Calmeyer bleibt Peters bleibender Verdienst.

Heute sehen wir allerdings vieles anders – auch vor dem Hintergrund neuer Erkenntnisse. Uns geht es bei diesem Museum nicht nur um die Ambivalenz und Gewichtung der Person Calmeyer insgesamt, nicht um ein pro oder contra seiner Person sondern um Schwerpunkte, die wir mit dem Haus setzen wollen.

Da Sie und die Öffentlichkeit und alle Ratsmitglieder einen Anspruch auf präzise Aussagen haben, erlaube ich es mir, die SPD-Position in 13 Thesen zusammen zu fassen:

  1. Wir halten es weiterhin für bedeutend, was bis heute zur Lebensleistung eines Hans Calmeyer aufgearbeitet wie auch publiziert worden ist. Nur stellvertretend für viele nenne ich für die positive Würdigung an erster Stelle den schon erwähnten Peter Niebaum, ebenso Mathias Middelberg bis hin zu Joachim Castan und den Entscheidern der angesehenen Gedenkstätte Yad Vashem in Israel. Nicht minder bedeutsam sind aber für uns beispielsweise die ehemalige städtische Gutachterin Geraldien van Frijtag Drabbe Künzel, die Promotion von Petra van den Boomgaard, ebenso die betont kritischen Ausarbeitungen wie jene von Coen Stuldreher, Johannes Max van Ophuijsen, Martin Sijes bis hin zu Els van Diggele mit ihrer eindrucksvollen Biografie über Femma Fleijsman-Swaalep, die zu Calmeyers Opferliste zählt.
  2. Unsere Stadt Osnabrück erfreut sich seit Jahrzehnten einer wachsenden Freundschaft mit Menschen in den Niederlanden. Kann es uns da gleichgültig sein, wenn eine dort sehr vernehmlich gehörte Initiative hunderter Künstler, Wissenschaftler, auch Überlebende des Holocaust, unbedingt erreichen wollten, dass die Villa nicht nach Calmeyer benannt wird? SPD-Sicht kann die Antwort nur nein lauten und wir sollten auch diese Stimmen ernst nehmen und berücksichtigen.
  1. Unser Nein zu einer Calmeyer-Betitelung gilt deshalb gerade auch mit Blick auf die Niederlande. Denken wir an gemeinsame Forschungen zur historischen Hollandgängerei, an die Gefangenenbiografien im Augustaschacht und innerhalb der Zwangsarbeitslager, an den nach Den Haag geflüchteten verfemten Künstler Vordemberge-Gildewart, an den nach Amsterdam geflohenen Reichstagsabgeordneten Hermann Tempel, an permanente Hilfen aus den Niederlanden für die Widerstandsarbeit in Osnabrück. All dies muss weiter gemeinsam aufgearbeitet werden. Auch und gerade mit Hilfe eines „Forum für Erinnerungskultur und Zeitgeschichte“, denn auch grausame NS-Täter wie ein Wilhelm Münzer haben in den Niederlanden gewirkt.
  2. Calmeyer selbst hat bei der Betrachtung seines Handelns ja einmal das Bild eines Rettungsbootes bemüht. Um dort untergebrachte Menschen zu retten habe er andere „mit dem Paddel“, wie er lt. Peter Niebaum sagte, weggehalten – sie also dem sicheren Tod ausliefern müssen. Dieser Zwiespalt muss Thema des Hauses sein. Reicht das aber, um ihn gesondert und herausgehoben zu ehren? Die SPD-Fraktion sagt deshalb heute nein zu einer eigenständigen, mit einer Hausbezeichnung dokumentierten Ehrung.
  3. Außer Calmeyer gilt es auch die ‚Stillen Helden‘ zu beachten‘. Dazu zählen Männer und Frauen aus Parteien, Gewerkschaften und vielen weiteren Organisationen, die im Nazi-Deutschland Widerstand geleistet und dafür ihr Leben riskiert oder gar gelassen haben. Es gab in der NS-Zeit in der Tat nicht nur die gleichgeschalteten Mitläufer. Es gab auch sie, und nicht einmal wenige, die, im Gegensatz zu Calmeyer, bereits vor 1933 mutig ihr eigenes Leben gegen braune Machthaber aufs Spiel gesetzt haben. Menschen, die lange vor allen Mittätern, Funktionsträgern und Opportunisten dieser Welt eine Würdigung verdienen.
  4. Auf dem Oktober-Symposium 2022 zur Namensgebung wurde, wenn ich das richtig notiert habe, von Herrn Middelberg betont, wirksamen Widerstand hätte man nur innerhalb des Systems leisten können. Bewusst überspitzt frage ich mich dann, wenn wir auf das aktuelle Weltgeschehen blicken und jungen Leuten Lehren vermitteln wollen: Muss man im heutigen Iran sich erst dem Mullah-Terrorregime anschließen, um dagegen zu halten? Die Logik kann m.E. nicht stimmen.
  1. Eben dies ist für die SPD-Fraktion der ganz entscheidende Punkt – nicht zuletzt deshalb, und das mag man uns nachsehen, weil wir uns allein schon in der historischen Verpflichtung gegenüber Menschen auch aus unserer eigenen Sozialdemokratie sehen, die im Widerstand gegen den Nazi-Terror ihr Leben verloren haben.
  1. Es sind mindestens 105 Menschen im Osnabrücker Widerstand bis 1945, deren Kurz- wie auch längere Biografien dankenswerterweise vom Osnabrücker ILEX-Kreis aufgearbeitet und publiziert worden sind. Wie wollten wir es eigentlich angesichts dieser mindestens 105 Vermächtnisse gegenüber rechtfertigen, jemanden, der offiziell als NS-Funktionär gewirkt hat, herausgehoben zu würdigen?
  1. Zweifelsfrei hat Calmeyer sehr viele Menschen gerettet. Eine Ehrung verbietet sich heute aber bei Betrachtung der gesamten NS-Biographie Calmeyers. Er hat seine Funktion in der NS-Verwaltung freiwillig übernommen und hat – auch das ein Ergebnis jüngster Forschungen – maßgeblich bei der Registrierung der Juden in den besetzten Niederlanden mitgewirkt. Jene Erfassung hat die Grundlage für Deportationen und Morde gebildet.
  1. Entgegen den Empfehlungen seiner Mitarbeiter hat Calmeyer nachweislich Hunderte von Anträgen – abweichend von seinen eigenen
    Richtlinien und seiner bisherigen Entscheidungspraxis – negativ beschieden. Martin Sijes schreibt im regionalen Geschichts-BLOG: „Petra van den Boomgaard hat zweifelsfrei bewiesen, dass Calmeyer 135 willkürliche, negative Entscheidungen über Juden getroffen habe, während er einen positiven Bescheid hätte erteilen können, wenn er seinem eigenen ‚Entscheidungsfindungsmodell‘ gefolgt wäre.“
  1. Völlig offene Fragen bleiben zu erforschen und verbieten schon deshalb eine herausgehobene Würdigung – ein Beispiel: Calmeyer wird von niederländischen Historikerinnen wie von Frijtag Drabbe Künzel vorgeworfen, dass er aktiv nach nicht registrierten Juden in den Niederlanden gesucht und dadurch 500 weitere jüdische Menschen ermittelt und gemeldet hat. Zur Frage der 500 „neu entdeckten“ Personen sind laut Martin Sijes noch weitere Forschungen erforderlich. Das „Centraal Joods Overleg“, die Nationale Plattform aller jüdischen Organisationen in den Niederlanden, hat das NIOD gebeten, diesbezüglich weitere Untersuchungen durchzuführen. Das ist noch nicht geschehen.
    (NIOD Institut voor Oorlogs-, Holocaust- en Genocidestudies)
  1. Völlig ungeklärt bleibt der Vorwurf von Forschern wie Martin Sijes, dass Calmeyer mitgeholfen habe, Tausende von Niederländern als Zwangsarbeiter nach Deutschland zu schicken, wo nahezu 8.000 von ihnen starben.
  1. Die Namensnennung eines Museums hat auch eine Ehrungsfunktion. Aus Respekt vor den Opfern, die auch der als „Judenretter“ verstandene Calmeyer durch seine Tätigkeit mitzuverantworten hat, verbietet sich daher eine Benennung der Villa nach Hans Calmeyer.

Gestatten Sie mir zum Schluss noch eine persönliche Bemerkung:

Falls ich hier – von wem auch immer – als Mensch mit überraschend neuer Einsicht verstanden werden sollte, darf ich noch auf eine Äußerung verweisen, die ich für die SPD-Fraktion unter anderem bereits in der NOZ-Ausgabe vom 1. Juni 2020, also vor knapp drei Jahren, gemacht habe.

Ich zitiere aus dem dazu besagten Bericht von Sebastian Stricker:

„Das Haus solle ‚regionale NS-Geschichte aufarbeiten‘. Dabei gehe es ‚eben nicht allein und einzig um die Person eines deutschen Vertreters in den damals besetzten Niederlanden und seinem Wirken als, ‚Entscheider‘, sondern auch darum, die ambivalente Rolle in der NS-Zeit zu problematisieren‘. Außer Calmeyer seien deshalb auch die ‚stillen Helden‘ zu beachten‘. Dazu zählt die Osnabrücker SPD Männer und Frauen aus Parteien, Gewerkschaften und vielen weiteren Organisationen, die im Nazi-Deutschland Widerstand geleistet und dafür ihr Leben riskiert oder gar gelassen haben.“


Nichts wäre peinlicher, als Benennungen wg. neuerer Erkenntnisse zurücknehmen zu müssen. Nichts drückt deshalb unsere Zielsetzung besser aus als ein Museumsgebäude, dass sich mit dem Untertitel „Forum für Erinnerungskultur und Zeitgeschichte“ positioniert und versteht.

Hier darf und muss die Debatte, die wir heute auch zu Hans Calmeyer führen, fortgesetzt und bereichert werden. Hier geht es um Inhalte, hier findet also auch – aber eben nicht nur – Hans Calmeyer statt!

Ein offenes Forum, in dem Geleistetes gewürdigt, Versäumnisse wie Verbrechen offen benannt und anhand des Widerstands gegen NS-Terror Zivilcourage gelernt wird, passt ausgezeichnet zu Osnabrück als Stadt gelebter Friedenskultur.

Ich habe stets betont, dass der Rat gut beraten ist, dem Rat des wiss. Beirates zu folgen – dies tut die SPD-Fraktion mit unserem heutigen Votum.